FORSCHUNGSSTAND HOCHSENSIBILITÄT

Stand der wissenschaftlichen Forschung zum Thema Hochsensibilität

Vorbemerkung: Die Rolle der Wissenschaft im Erfahrungsraum

Wissenschaftliches Faktenwissen bietet uns wertvolle Orientierung. Es bleibt jedoch immer eine Momentaufnahme – ein Abbild der Phänomene, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt mit den verfügbaren Methoden untersuchen ließen. Während Messbares oft als verlässlich erscheint, offenbart eine tiefere Betrachtung die Dynamik und Vielschichtigkeit, die in den beobachteten Prozessen liegt. Wissenschaft lädt ein, das Bekannte immer wieder zu hinterfragen und unser Wissen zu erweitern.

In diesem Sinne präsentieren wir hier eine Momentaufnahme aus der aktuellen Forschung zu Hochsensibilität (Sensory Processing Sensitivity, SPS). Sie zeigt, wie sich die Forschung seit den Pionierarbeiten von Dr. Elaine Aron entwickelt hat und welche neuen Perspektiven sich daraus für das Verständnis dieses Persönlichkeitsmerkmals ergeben.

1.) Hochsensibilität – ein Persönlichkeitsmerkmal im Fokus der Wissenschaft

Dr. Elaine Aron prägte Mitte der 1990er Jahre die Begriffe Highly Sensitive Person (HSP) und Sensory Processing Sensitivity (SPS). Diese beschreiben eine erhöhte Empfänglichkeit für sensorische und emotionale Reize sowie eine tiefere Verarbeitung von Informationen. Die von Aron entwickelte HSP-Skala ist nach wie vor ein zentraler Bestandteil der Forschung und wurde inzwischen mehrfach überprüft, angepasst und in verschiedene Sprachen übersetzt.

Die Grundannahmen ihrer Forschung – dass etwa 15–20 % der Menschen hochsensibel sind – wurden durch zahlreiche Studien bestätigt. Auch in über 100 Tierarten wurde eine vergleichbare Sensitivität festgestellt, was darauf hinweist, dass Hochsensibilität evolutionär von Vorteil sein kann.

2.) Die Indikatoren der Hochsensibilität: DOES

Elaine Aron fasste die Merkmale der Hochsensibilität unter dem Akronym DOES zusammen:

  • D – Depth of Processing (Verarbeitungstiefe): Hochsensible Menschen verarbeiten Informationen gründlicher und reflektieren intensiver.
  • O – Overstimulation (Überreizung): Die Verarbeitungstiefe kann dazu führen, dass sie sich schneller überreizt fühlen.
  • E – Emotional Reactivity/Empathy (Emotionale Reaktivität/Empathie): Sie reagieren stark auf emotionale Reize, besonders negative, und verfügen über hohe Empathie.
  • S – Sensitivity to Subtle Stimuli (Sensibilität für subtile Reize): Hochsensible Menschen nehmen Details wahr, die anderen oft entgehen.

Diese Merkmale bilden die Grundlage für die Charakterisierung von SPS als eigenständigem Persönlichkeitsmerkmal, das sich klar von psychischen Störungen wie Schizophrenie oder Autismus abgrenzt.

3.) Erweiterte Perspektiven: Forschung zu den Faktoren von Hochsensibilität.

Neuere Studien, wie jene von Konrad und Herzberg (2017), zeigen, dass sich SPS durch drei Faktoren beschreiben lässt:

  • Leichte Erregbarkeit (Ease of Excitation, EOE): Eine schnelle Überreizung durch sensorische oder emotionale Reize.
  • Ästhetische Empfindsamkeit (Aesthetic Sensitivity, AES): Eine besondere Ansprechbarkeit auf Kunst, Natur und Schönheit.
  • Niedrige Wahrnehmungsschwelle (Low Sensory Threshold, LST): Eine verstärkte Empfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen wie Licht oder Lärm.

Diese Differenzierung erlaubt eine präzisere Beschreibung individueller Ausprägungen von Hochsensibilität und unterstützt die Entwicklung personalisierter Interventionen.

4.) Hochsensibilität im Zusammenspiel von Genetik und Umwelt

Die Forschung zeigt, dass Hochsensibilität auf einer komplexen Wechselwirkung zwischen genetischen Dispositionen und Umweltfaktoren beruht. Studien zu sogenannten „Plastizitätsgenen“ (z. B. in den Dopamin-, Serotonin- und Oxytocin-Systemen) legen nahe, dass genetische Variationen die Sensibilität beeinflussen können. Besonders interessant ist die Erkenntnis, dass hochsensible Menschen stark auf psychosoziale Interventionen ansprechen – ein Phänomen, das als Vantage Sensitivity bezeichnet wird.

Gleichzeitig zeigen Studien, dass die Entwicklung hochsensibler Menschen stark von Umweltfaktoren beeinflusst wird (Differential Susceptibility). Ungünstige Bedingungen erhöhen das Risiko für Stress und psychische Erkrankungen, während förderliche Umfelder das Potenzial für Resilienz und persönliche Entfaltung freisetzen.

5.) Neurowissenschaftliche Erkenntnisse

Moderne Bildgebungsverfahren, insbesondere die Arbeiten von Bianca Acevedo, zeigen, dass bei hochsensiblen Menschen spezifische Gehirnareale aktiver sind. Dazu gehören Regionen, die für Empathie, soziale Interaktion und die Integration sensorischer Informationen verantwortlich sind. Diese Forschung belegt, dass Hochsensibilität eine messbare neurobiologische Basis hat und keine rein subjektive Wahrnehmung ist.

6.) Hochsensibilität und gesellschaftliche Relevanz

Hochsensible Menschen spielen in einer zunehmend komplexen Welt eine wichtige Rolle. Ihre Fähigkeit, subtile Signale wahrzunehmen, Brücken zu bauen und tiefer zu reflektieren, kann zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen. Die Forschung deutet darauf hin, dass diese Sensibilität nicht nur ein individuelles Merkmal ist, sondern auch eine Ressource, die in Zeiten des Wandels dringend benötigt wird.

7.) Fazit

Die wissenschaftliche Forschung zu Hochsensibilität hat in den letzten Jahrzehnten beeindruckende Fortschritte gemacht. Sie zeigt, dass SPS ein eigenständiges, evolutionär begründetes Persönlichkeitsmerkmal ist, das von einer tiefen Wechselwirkung zwischen Biologie und Umwelt geprägt wird. Während noch viele Fragen offen sind, bieten die bisherigen Erkenntnisse wertvolle Impulse für das Verständnis und die Unterstützung hochsensibler Menschen – sei es in der persönlichen Entwicklung, in Beziehungen oder im gesellschaftlichen Kontext.

Für weitere Informationen erreichen Sie uns unter info@aurum-cordis.de oder telefonisch unter 04161 - 714 712.

8.) Literaturliste mit aktuellen und relevanten Publikationen zur Hochsensibilität und Sensory Processing Sensitivity (SPS):

Grundlagen und Pionierarbeiten

  1. Aron, Elaine N., & Aron, Arthur (1997). “Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality”. Journal of Personality and Social Psychology, 73(2), 345–368.
    o Die grundlegende Arbeit, die Hochsensibilität als eigenständiges Persönlichkeitsmerkmal definiert und von Introversion und emotionaler Reaktivität abgrenzt.

  2. Smolewska, Kathy A.; McCabe, Scott B.; Woody, Erik Z. (2006). “A psychometric evaluation of the Highly Sensitive Person Scale: The components of sensory-processing sensitivity and their relation to the BIS/BAS and Big Five”. Personality and Individual Differences, 40(6), 1269–1279.
    o Untersuchung der Faktorenstruktur der HSP-Skala und ihrer psychometrischen Eigenschaften.

Neurowissenschaftliche Forschung.

  1. Acevedo, Bianca P., Aron, Elaine N., Aron, Arthur, Sangster, Matthew-Donald, Collins, Nancy, & Brown, Lucy L. (2014). “The highly sensitive brain: An fMRI study of sensory processing sensitivity and response to others’ emotions”. Brain and Behavior, 4(4), 580–594.
    o Erste fMRT-Studie, die die neurobiologischen Grundlagen von SPS untersucht.

  2. Jagiellowicz, Jadzia, Xu, Xiaomeng, Aron, Arthur, Aron, Elaine, Cao, Guoxiang, Feng, Tingyong, & Weng, Xuchu. (2011). “The trait of sensory processing sensitivity and neural responses to changes in visual scenes”. Social Cognitive and Affective Neuroscience, 6(1), 38–47.
    o Untersuchung der neuronalen Aktivierung hochsensibler Menschen bei Veränderungen visueller Reize.

Entwicklung und Umwelt

  1. Belsky, Jay, Bakermans-Kranenburg, Marian J., & Van IJzendoorn, Marinus H. (2007). “For better and for worse: Differential susceptibility to environmental influences”. Current Directions in Psychological Science, 16(6), 300–304.
    o Einführung des Konzepts der Differential Susceptibility, das die erhöhte Reaktionsfähigkeit hochsensibler Menschen auf Umwelteinflüsse beschreibt.

  2. Lionetti, Francesca, Pastore, Maddalena, & Pluess, Michael. (2018). “Sensitivity to the environment and positive development: A test of vantage sensitivity in adolescence”. Developmental Psychology, 54(3), 433–446.
    o Beleg für das Konzept der Vantage Sensitivity, das die positive Reaktion Hochsensibler auf unterstützende Interventionen beschreibt.

Genetische Forschung.

  1. Boyce, W. Thomas, & Ellis, Bruce J. (2005). “Biological sensitivity to context: I. An evolutionary-developmental theory of the origins and functions of stress reactivity”. Development and Psychopathology, 17(2), 271–301.
    o Evolutionsbiologische Perspektive auf SPS als Anpassungsstrategie an Umweltbedingungen.

  2. Pluess, Michael, & Belsky, Jay. (2013). “Vantage sensitivity: Individual differences in response to positive experiences”. Psychological Bulletin, 139(4), 901–916.
    o Theoretische Grundlage für Vantage Sensitivity und deren genetische Basis.

Psychometrische Validierung.

  1. S. Konrad & P. Y. Herzberg. „Psychometric Properties and Validation of a German High Sensitive Person Scale (HSPS-G)” European Journal of Psychological Assessment, 28(1), 21-27.
    o Überarbeitung und Ausdifferenzierung der HSP-Skala für den deutschen Sprachraum.

  2. Lionetti, Francesca, Aron, Elaine, Aron, Arthur, Klein, Dominique N., & Pluess, Michael. (2019). “Sensitivity profiles and the interaction between genetic and environmental factors”. Developmental Psychology, 55(12), 2906–2920.
    o Untersuchung der genetischen und umweltbedingten Faktoren von Sensibilität.

Praxis und Intervention.

  1. Dana, Deb. (2018). “The Polyvagal Theory in Therapy: Engaging the Rhythm of Regulation”. New York: W. W. Norton & Company.
    o Anwendung der Polyvagal-Theorie auf die therapeutische Praxis, besonders relevant für hochsensible Menschen.

  2. Aron, Elaine N. (2019). “The Highly Sensitive Parent: Be Brilliant in Your Role, Even When the World Overwhelms You”. Citadel Press.
    o Erweiterung der Hochsensibilitätsforschung auf die Rolle als Elternteil.

Evolution und Tierforschung.

  1. Wolf, Max, Van Doorn, G. Sander, & Weissing, Franz J. (2008). “Evolutionary emergence of responsive and unresponsive personalities”. Proceedings of the National Academy of Sciences, 105(41), 15825–15830.
    o Evolutionsbiologische Grundlagen von Sensibilität in Tierpopulationen.

  2. Stamps, Judy A. (2016). “Individual differences in behavioural plasticities”. Biological Reviews, 91(3), 534–567.
    o Untersuchung der Verhaltensplastizität als evolutionäre Strategie, die auch hochsensible Verhaltensweisen erklärt.


Autorin: Vera Steisslinger © 2025