Hochsensible Menschen – die Seismografen unserer Gesellschaft

19.03.2015

„Ich war schon immer anders.“ ein Satz, mit dem sich viele hochsensible Menschen charakterisieren. Dieses „Anderssein“, empfunden als Fremdsein in dieser Welt, resultiert aus einer speziellen Art von Wahrnehmung. Hochsensible Menschen leben mit einem reduzierten Reizfiltersystem: Sie nehmen Umgebungsreize stärker wahr und verarbeiten diese Informationen tiefer und differenzierter als ihre weniger sensiblen Mitmenschen. Darüber hinaus erleben sie einen längeren Nachhall der gemachten Erfahrungen. Infolgedessen muss das System des hochsensiblen Menschen bereits eine stärkere Grundbelastung verarbeiten, noch bevor der wachsende Druck des Alltags hinzukommt und zu einem Überschreiten der persönlichen Stress-Schwelle führen kann.

„Hochsensible Menschen erleben sich oft als nicht so leistungsstark und belastbar wie ihre weniger sensiblen Mitmenschen. Schneller als andere leiden sie unter Dauerstress-Erkrankungen wie z.B. tiefen Erschöpfungszuständen, Depressionen, Entzündungsneigung, Infektanfälligkeit, chronischen Magen-Darm-Erkrankungen, chronischer Muskelanspannung, Schmerzzuständen und Ähnlichem“, erklärt Jutta Böttcher, Geschäftsführerin von Aurum Cordis – Kompetenzzentrum für Hochsensibilität.

Angesichts des Leistungs-und Erfolgsdrucks in unserer Gesellschaft wird das Phänomen der Hochsensibilität in der öffentlichen Aufmerksamkeit vor allem mit dieser „Schwäche“ verbunden. Jedoch beschenkt das reduzierte Reizfiltersystem den Träger dieses Persönlichkeitsmerkmals mit einer ganzheitlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Sie ermöglicht ihm u.a. das Empfinden einer allumfassenden Verbundenheit und eine Ahnung seiner persönlichen Entwicklungspotenziale, nach deren Verwirklichung er sein Leben lang sehnsuchtsvoll strebt. Auf der persönlichen Ebene zeigt sich dieses Empfinden von Verbundenheit u.a. in einer hohen Empathiefähigkeit, in dem Vermögen, ungewöhnliche Problemlösungen herstellen zu können, einer großen Kreativität sowie einem ausgeprägten inneren Wertesystem.

„Die Gruppe der hochsensiblen Menschen - nach amerikanischen Forschungen immerhin 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung - zeigt viele Überschneidungen mit den sogenannten ‚Selbstverwirklichern‘, mit denen sich der bekannte Sozialpsychologe Abraham Maslow (1908-1970) in seinen Forschungen zu Stress-Resilienz und Gesundheit befasste. Er verglich die Selbstverwirklicher mit Kanarienvögeln, die früher als erste in Bergwerke geschickt wurden, weil sie mit ihrem feinen Gespür und ihrem Verhalten schneller und genauer als jeder Mensch vor drohenden Schlagwettern – einem Gasgemisch aus Methan und Luft – warnen konnten“, so Jutta Böttcher weiter.

Das Problem vieler hochsensibler Mensch besteht darin, dass sie die für alle bedrohlichen „Schlagwetter“ in Form von zu hoher Komplexität im Alltag, von zu viel Druck, Entfremdung von sich selbst bis hin zum Selbstverrat usw. tatsächlich früher als andere wahrnehmen. Da sie sich jedoch oft ihrer feinen Wahrnehmung (noch!) nicht bewusst sind oder sich bemühen, sich möglichst gut anzupassen, können die Hochsensiblen als „warnende Kanarienvögel“ kaum erkannt werden. Sie haben keine Stimme. Anstatt sie als frühe Symptomträger einer bedrohlichen Situation zu betrachten, stehen Hochsensible als jene da, die immer „anders“ und dem Anpassungsdruck dauerhaft nicht gewachsen sind.

Beispiel einer aufstrebenden Senior Art Direktorin

Als typische Hochsensible war sie schon als Kind mit vielen Begabungen gesegnet. Ihre Kreativität jedoch war die Gabe, die sie am meisten mit Freude erfüllte und ihr einen besonderen Zugang zu sich selbst schenkte. Sie nutzte ihre Kreativität, studierte und schlug den Weg in die Werbebranche ein.

Schnell war sie erfolgreich. Üblicherweise arbeitete sie mehr als alle anderen - dem für Hochsensible charakteristischen hohen Leistungsanspruch an sich selbst entsprechend. Ihr besonderes Einfühlungsvermögen half ihr, die Kundenbedürfnisse genau zu erfassen und in passende Kampagnen zu übersetzen. In Bereichen, in denen Menschen Vertrauen fassen mussten (z. B. bei Film- und Fotoproduktionen), war sie sehr erfolgreich darin, Ängste nachzuempfinden und im Interesse eines gemeinsamen Erfolgs ermutigend zu wirken. Aber auch im professionellen Umgang mit Kollegen, Kunden und Dienstleistern war diese Begabung von besonderem Wert. Mit ihrer Empathiefähigkeit, Einfallsreichtum und ihrer Sorgfalt stieg die junge Frau rasch in die kreative Leitung der Agentur auf und übernahm damit Verantwortung für sehr anspruchsvolle Kundenetats.

Langsam und schleichend jedoch machte sich nicht nur die Erschöpfung bemerkbar. Beziehungsprobleme aufgrund eines fehlenden Privatlebens entstanden. Es gab keinen Freiraum außerhalb einer Branche, in der Überbelastung als Maßstab für den beruflichen Erfolg angesehen wird. Immer intensiver drängte sich ihr die Frage nach der Sinnhaftigkeit ihres Tuns auf. Die damit verbundene Erfahrung von innerer Leere machte es schwer, den beruflichen Alltag weiterhin durchzustehen. Das zunächst diffuse Gefühl, täglich gegen eine spürbare innere Aufforderung zur Veränderung anarbeiten zu müssen, meldete sich mit einer bohrenden Unerbittlichkeit, die für viele Hochsensible nur mit äußerster, noch mehr Kraft raubender Disziplin zu ertragen ist.

Hier entsteht die größte Herausforderung. Denn ist das Bedürfnis der „Selbstverwirklicher“ nach Sinnerfüllung dauerhaft unterminiert, kann die Befriedigung anderer Bedürfnisse diesen Mangel nicht ausgleichen. Auch die hochsensible Art Direktorin konnten weder die anerkannte Position noch ein gutes Gehalt von ihrem beruflichen Ausstieg abbringen. Im Gegenteil - der hohe zeitliche Druck, unter dem sowohl die Agentur als auch ihre Kunden ständig standen, verschlangen den Freiraum für die kreative Arbeit der jungen Frau zunehmend. Kreativität als die Fähigkeit, aus dem Nichts zu schöpfen und zu gestalten, benötigt die Erlaubnis, auch zunächst unbrauchbare Ergebnisse liefern zu können, bevor der Treffer gelingt. Doch diese Erlaubnis gab es nicht mehr. In dieser Situation zumindest handwerklich gute Arbeit erbringen zu können, wurde aufgrund des immer stärker werdenden Diktats der Kunden zunehmend schwieriger.

Die kreative Begabung, einst Grund für diese Berufswahl, spielte irgendwann ebenso wenig eine Rolle wie der eigene Anspruch an eine fachlich gute Arbeit. Täglich die Vergeblichkeit des eigenen Bemühens zu erleben, verbunden mit einem gnadenlosen Konkurrenzkampf unter den Kollegen, der von der Geschäftsleitung mit initiiert wurde, sowie die Erkenntnis, dass sie alle miteinander mental und körperlich ausgenutzt wurden, bezahlte die junge Frau an jedem weiteren Arbeitstag mit dem schleichenden Verlust ihrer körperlich-seelischen Leistungsfähigkeit.

Es folgte ein völliger Zusammenbruch mit langfristiger Arbeitsunfähigkeit, verbunden mit der Überlegung, ob die wertvolle berufliche Qualifikation und die Erfahrung überhaupt jemals wieder nützlich eingesetzt werden könnten. Sie hat lange gebraucht, um zu erkennen, dass sie keine Minderleisterin ist, sondern dass sie in einer krankmachenden Struktur gelandet war, der sich ihr feines System, das ihre Arbeit so wertvoll machte, verweigert hatte. Heute weiß sie, dass ein klagloses Funktionieren hinter einer stabilen und unauffälligen Maske aus Angst und aus dem dringenden Wunsch dazuzugehören, keine Option für sie ist.

Dauerhaft beeinträchtigt von den körperlichen und seelischen Verletzungen des „Schlagwetters“ ist sie mit einer völligen Umorientierung in ihrem Leben konfrontiert. Die Erkenntnis, sich selbst treu bleiben zu müssen, um nachhaltig gesunden zu können, macht die Wahl einer neuen beruflichen Tätigkeit nicht einfach. Dennoch sind diese Form von Selbsterkenntnis und das Bewusstsein über eine eigene „Gesundheitskompetenz“ die wichtigsten Geschenke einer schweren Zeit. Erst die Krise hat ihr den Raum für die dringend notwendige Selbstreflexion und das Bekenntnis zu sich selbst gegeben. Die Branche, die von der Kreativität und dem Einfühlungsvermögen ihrer Mitarbeiter lebt, hat allerdings ein großes Talent verloren.

Von Hochsensiblen lernen

„Längst erkennen sich inzwischen zahlreiche Berufstätige als ersetzbare Antreiber des Hamsterrades. Häufig versuchen sie nur noch aufgrund reiner Existenzangst ihre Leistung zu erbringen. Kreativität, Freude, Leistungsfähigkeit und -bereitschaft sinken. Der Krankenstand erhöht sich. Symptome, die bislang vermehrt bei Hochsensiblen zu finden waren, manifestieren sich in allen Beschäftigtengruppen“, sagt Jutta Böttcher.

Der enorme Anstieg der psychisch und psychosomatisch Erkrankten könnte zudem darauf hinweisen, dass unter ihnen viele hochsensible Menschen sind. Sie sind besonders in den Bereichen zu finden, in denen der Krankenstand dramatisch wächst: in den kreativen Berufen, im pädagogischen, pflegerischen, medizinischen und sozialen Bereich. Hochsensible auf diese Weise zu verlieren, heißt auch, dass die Gesellschaft Gaben und Talente verliert, die dringender denn je benötigt werden. Vielleicht ist die Zeit endlich reif, den „Kanarienvögeln“ zuzuhören und auf ihre Hinweise zu reagieren und ihnen nicht das Stigma reduzierter Leistungsfähigkeit aufzudrücken. Anstatt hohe Krankheitskosten zu verursachen, könnten Hochsensible einen überaus wichtigen Beitrag zu einer für alle positiven Entwicklung leisten – und damit kostensparend für alle wirken.

Über Aurum Cordis

Aurum Cordis ist das erste und bisher in seiner Art bundesweit einzige Kompetenzzentrum für Hochsensibilität. Seit 2008 ist es führend in der Beratung hochsensibler Erwachsener und Familien mit hochsensiblen Kindern tätig. Berufstätigen bietet es professionelle Unterstützung bei der Gestaltung ihrer beruflichen Entwicklung in Einklang mit den individuellen Fähigkeiten. Das Angebot von Aurum Cordis wird von einem umfangreichen Seminar- und Fortbildungsangebot ergänzt.

Pressekontakt und weitere Informationen

Aurum Cordis GmbH & Co. KG
Jutta Böttcher
Stader Straße 32
21614 Buxtehude
Telefon: 04161-714712
E-Mail: info@aurum-cordis.de
www.aurum-cordis.de

Autor: Jutta Böttcher



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