Die Freiheit der Wahl-Impressionen von der Insel Sylt

27.08.2018

Für fein spürende Menschen schlägt das Herz der schönen Insel Sylt in der Erde rund um die Erhebung, auf der seit Jahrhunderten die berühmte Kirche St. Severin weithin sichtbar steht. Schon in alter Zeit fand sich hier ein vorchristlicher Kultplatz, dessen Spuren sich auch heute noch finden lassen. So liegt in einem sonnigen Winkel an der Außenwand zwischen Sakristei und Altarraum ein wunderbares Meditationsplätzchen. Es lädt ein, in Wind und Sonne sitzend dem Plätschern eines Brunnen zu lauschen. Das Wasser läuft über eine große Platte, von der gesagt wird, dass sie die Opferplatte für die Göttin Freya gewesen wäre.

Und so wie an dieser Stelle Stille und Heilung auf die Erinnerung an blutige Rituale treffen, bietet das Areal des Friedhofs rund um die kleine Kirche noch mehr dieser Gelegenheiten, Frieden einzuladen.
Eine davon berührt ganz besonders. Ein wenig abseits im Gebüsch und dennoch in Verbindung zur Kirche, findet sich eine Bronzeskulptur- ein Mantel, der fast geisterhaft die Leere in seinem Inneren umhüllt. Diese Leere kann den Betrachter förmlich einsaugen- grauenerregend ruft sie – ohne dafür dort platziert zu sein- Erinnerungen an den Pestfriedhof wach, von dem gesagt wird, dass er sich nur wenige Meter entfernt auf dem Areal einer benachbarten Wiese befunden haben soll.

Und wie diesem Sog zum Trotz findet sich zugleich in der Beschreibung neben der Skulptur sinngemäß der Satz: “Der Tod ist ein tröstlicher Mantel, in den Gott uns einhüllt, um uns sicher nach Hause zu tragen.”

Und plötzlich zeigt sich, dass der Betrachter frei ist, sich zu entscheiden, welche Botschaft er spüren und welcher er mehr Gewicht geben möchte:
dem Grauen der Inneren Leere, die hier sichtbar gemacht ist und zu der immer mehr Menschen einen so starken Bezug haben. Oder aber dem Trost einer göttlichen Umhüllung, die dieser Leere eine andere Bedeutung zu geben weiß.

Über Jahre hat auch mich das Grauen mit einer spürbaren Gänsehaut in seinen Bann gezogen. Ich fühlte mich an die schrecklichen Gestalten der Dementoren in der Geschichte von Harry Potter erinnert, die den Menschen Lebenskraft und Seele aussaugen.

Aber jetzt hat sich etwas verändert…..

In der Betrachtung dieser Figur kommt plötzlich und unerwartet Mitgefühl und Wärme in mir auf. Mir fallen eigene Lebenssituationen ein und zugleich viele Gespräche mit meinen Klienten, die fast alle aus dem Empfinden tiefer Leere zu mir kamen.
Und mir wird schlagartig klar:
Wenn die Leere siegt, haben wir vergessen, den Blick auf den umhüllenden tröstlichen Aspekt des Mantels zu richten. Er ist immer da - aber die Aufmerksamkeit trifft den Umstand, das er ein Nichts zu umhüllen scheint. Etwas “Ausgesogenes, Leeres, Kaltes” wie bei den Dementoren in den Geschichten von Harry Potter.

Vielleicht aber stimmt diese Sichtweise gar nicht. Vielleicht umhüllt dieser Mantel auch ein „Alles“ - all das, was frei sein darf von den Restriktionen der Form, der Glaubenssätze, der eigenen, sich selbst auferlegten Beschränkungen und damit letztlich die Essenz dessen, was wir wirklich sind - unser Selbst!

Erst, wenn es dem Betrachter gelingt, “das Ganze zu sehen”, kann er das Geschenk dieser Umhüllung spüren: Sicherheit, niemals ganz verloren zu sein!. Selbst im Nichts ein Teil dieses unermesslich weiten Raumes zu sein - oder anders herum – gerade im Verlust der haltgebenden Struktur mit allem verbunden zu sein.

Das war für mich eine neue Erfahrung in der Begegnung mit dieser Skulptur – so berührend, dass ich sie heute teilen möchte.
Es ist mir ein Anliegen, weil ich glaube, dass sie gerade für hochsensible Menschen, die in ihrem Gleichzeitigkeitsbewusstsein immer die Fähigkeit haben, eine andere Ebene einzunehmen, um eine neue Wahl zu treffen, bedeutsam sein könnte.

Ich glaube, es wird immer wichtiger, uns gegenseitig an die Möglichkeit zu erinnern, Dinge von einer anderen Perspektive aus zu betrachten, um das Heile und das Wunder hinter der Angst und Bedrohung zu entdecken. Den Blick weiten zu können, um „das Ganze“ sehen zu können, ist eine der ganz wichtigen Gaben hochsensibler Menschen, mit der sie sich selbst und auch andere aus einer inneren Falle von Angst und Aussichtslosigkeit befreien können.

Es ist wie auf einem Vexierbild - wenn ich einmal beide Formen gesehen habe, ist die Focussierung des Blicks auf die Fragmentierung im Detail nur noch schwer möglich. Unser Gehirn hat entdeckt, dass es in der Ganzheit etwas anderes zu entdecken gibt - eine Erkenntnis, der unser ganzes System dann folgen möchte!

Autor: Jutta Böttcher © 2018



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