Hochsensible Jugendliche

In der Pubertät findet der letzte große Umbauprozess des Gehirns statt. Der Körper verändert sich, die Hormone tanzen Tango und die Gefühle fahren Achterbahn. Das Zugehörigkeitsgefühl zur Peergroup wird immer wichtiger und ebenso die Frage nach der eigenen Identität. Bald ist man also erwachsen - und das ist heißersehnt und beängstigend zugleich.

Was aber bedeutet das alles für hochsensible Jugendliche mit ihrer hochdifferenzierten Wahrnehmung, ihrem Blick für das Ganze und in die Tiefe, ihrem Bedürfnis nach Rückzug?

Eigene Grenzen ausloten

Aus Erfahrung wissen sie um die Risiken von Überstimulation für ihr Wohlbefinden. Und trotzdem möchten viele der hochsensiblen Jugendlichen das Selbe erleben und ausprobieren wie Gleichaltrige. Sie können auf einmal mutig, neugierig und experimentierfreudig sein, wollen auf Partys und Rockkonzerte gehen, Alkohol trinken, mit Freunden im Park abhängen, sich auf Social Media tummeln. So überrascht ein Teenager, der als Kind große Angst vor Wasser hatte, seine Eltern mit dem Wunsch, mit einem Freund zum Surfen lernen nach Dänemark zu fahren. Oder eine junge Frau will jetzt unbedingt auf die Konzerte ihrer Lieblingsband, obwohl sie da regelmäßig in Ohnmacht fällt.

Flexibilität üben

Die hochsensiblen Jugendlichen testen ihre eigenen Grenzen aus und spüren, dass die meisten anderen deutlich mehr aushalten können als sie selber. Doch auch wenn sie das erkennen, ist es gut und notwendig, dass sie sich in unterschiedlichen Rollen ausprobieren. Sie erfahren dabei, wer sie selbst sind, in welche Haut sie schlüpfen können und was das mit ihnen macht. Es ist wichtig, auf diese Weise Flexibilität mit sich selbst zu erkunden.

Ressourcen finden

Besonders hilfreich ist für die Jugendlichen zu wissen, wo sie wieder auftanken und sich von der aufregenden Welt erholen können: Das eigene Bett, mit ein paar Kuscheltieren aus der Kindheit, wo man mit einem Schmöker mal kurz wieder Kind sein darf und sich von der Mutter eine heiße Schokolade bringen lässt. Ein nahegelegener Wald, in dem man stundenlang keinem anderen Menschen begegnet. Aber auch in einem Computerspiel mit Freunden eine eigene Welt bauen, kann erholsam und entlastend sein.

Frühes politisches Engagement in Krisenzeiten

Insgesamt ist ein relevanter Teil der jetzigen jungen Generation sehr politisch und gesellschaftlich interessiert und engagiert. Ihnen ist bewusst, dass sie und ihre Zukunft unmittelbar betroffen sind von den aktuellen weltweiten Krisen und gravierenden Veränderungen. Bei den tief fühlenden und denkenden Hochsensiblen unter ihnen kann das zu einem Konflikt führen: Sie möchten etwas tun, um negative Entwicklungen aufzuhalten, etwas verändern und sich einbringen. Gleichzeitig erscheint ihnen aufgrund ihres vernetzen Denkens und ihres Hangs zum Perfektionismus die Aufgabe schier unlösbar in ihrer beängstigend übermächtigen Dimension.

Seismographen der Gesellschaft

Zudem neigen sie dazu, das Leid von Mensch und Natur, die unmittelbar betroffen sind von Kriegen und Umweltkatastrophen, deutlich mit zu empfinden. Diese Jugendlichen sind Experten dafür, die Grenzen, auf die wir alle zusteuern, schon jetzt in aller Deutlichkeit zu empfinden. Sie sind damit typische Beispiele für die These, dass hochsensible Menschen Seismographen der Gesellschaft sind. Ebenso macht ihre Art zu sein sie zu idealen Pionieren des Wandels. Jedoch birgt die Intensität ihrer Wahrnehmung in diesem Spannungsfeld das Risiko innerer und äußerer Überforderung. In deren Folge kann es zu psychischen Auffälligkeiten kommen wie zum Beispiel Angststörungen oder Depressionen, die dann unbedingt fachlich versierter medizinischer Unterstützung bedürfen.

Den eigenen Weg mit der Hochsensibilität finden

Aber soweit muss es nicht kommen. Hilfreich für Hochsensible - ob Kinder oder Jugendliche - ist es immer, das Selbstwertgefühl zu stärken: vertraue auf deine Impulse, entdecke, was dich wieder auftanken lässt, finde den Platz, an dem du wieder ganz bei dir ankommen kannst, schau dir deine Gefühle und was sie dir sagen genau an und versuche nicht, sie wegzudrücken (das geht nämlich nicht).

Gefühle sortieren

Die intensiven Gefühle mögen sich oft lästig anfühlen, aber sie sind auch ein großer Schatz, der sich zu entdecken lohnt. Sie können hilfreiche Wegweiser sein und das Leben sehr bereichern mit ihrer bunten Vielschichtigkeit. Um das manchmal undurchdringliche Gefühlschaos auf dieser spannenden Reise zu sortieren und aushaltbar zu machen, hilft eines immer: künstlerischer Selbstausdruck! Den eigenen Gefühlen in Bild, Musik oder Prosa gegenüber zu stehen ermöglicht, sich selbst zu begegnen. Das zu erleben wirkt zumeist klärend und berührend. Die dadurch entstehende Selbstverbundenheit lässt auch die zuweilen auftretenden Gefühle von Verzweiflung, Unverstanden-Sein und Einsamkeit wieder in den Hintergrund treten.

Eltern

Zugleich bietet sich für die Eltern die Chance, sich ein wenig von der Sorge um ihr empfindsames Kind zu befreien. Sie dürfen ihren Heranwachsenden etwas zutrauen und müssen ihnen die Möglichkeit für eigene Erfahrungen einräumen. Das ist für Eltern nicht leicht - schon gar nicht für jene, die wissen, wie empfindsam ihre Kinder sind. Gerade für sie ist es wichtig, sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass es gut für Jugendliche ist, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, die sich einem sinnvollen Ziel verschrieben hat. Auf diese Weise einen persönlichen Beitrag zu Veränderung leisten zu wollen, hilft, sich als wirksam zu erleben. Zusätzlich kann es entlastend sein, sich darüber zu informieren, in welcher Weise auch andere Menschen aktiv zu positiver Veränderung beitragen. Und wenn hochsensible Jugendliche auf gleichermaßen tief empfindende Gleichaltrige treffen, dann kann damit ein großes Glück verbunden sein!

Autor: Imke Jennrich

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